Günter Overmann
 Günter Overmann

Als Mathilde Horst später in der Schlange beim Bäcker ablösen
wollte, fand sie ihn nicht. Sie sah sich um, voller Sorge, voller
Angst – war es etwa doch ein Kinderschänder, dem Gerhild
begegnet war? –, auch von Frieder und Karla keine Spur. Sie
fragte, aber keiner der anderen, die vor der Tür des Bäckers
warteten, hatte eines der Kinder gesehen. Der Mund wurde ihr
trocken.
Aber sie schluckte die Angst, die Panik, die in ihr aufstieg,
herunter, lief durch Trümmer, Ruinen, Höfe, immer hektischer,
suchte, fragte herum. Doch nichts, niemand wusste etwas.
An einer Ecke, schon am Rande ihres Kiezes, wo die Kinder
eigentlich gar nicht mehr hingehen sollten, stand sie plötzlich
einem Mann gegenüber, der an einer verschmorten, halb abgeknickten
Straßenlaterne lehnte und rauchte. Der Mann sah aus
wie ein Italiener oder Spanier. Könnte das der Jude oder der
Zigeuner sein, der Gerhild verzaubert hat, schoss es Mathilde
durch den Kopf. Oder der Kinderschänder, vor dem Heidrun
sich so fürchtete? Aber wenn er so einer war, versuchte sie sich
zu beruhigen, würde er doch nicht einfach hier herumstehen
und rauchen …
Da löste sich der Mann von der Laterne, schnippste seine
nur halb aufgerauchte Zigarette weg und kam auf sie zu. Als
hätte er ihre Gedanken gehört, laut und deutlich. Mathilde
erschrak, konnte ihn nicht ansehen.
«Ist was?», fragte der Mann, gar nicht einmal unfreundlich,
als er dicht vor ihr stand.
«Nein, nein, gar nichts. Ich habe nur …»
Unerwartet huschte ein Lächeln über das Gesicht des Mannes.
Weiße Zähne blitzten auf. Er muss gesund sein, dachte
Mathilde unwillkürlich. Gesund, kräftig, voller Leben – kein
deutscher Mann war das dieser Tage. Und dann trug er auch
noch diese bunte Weste. Unwillkürlich schaute Mathilde an
sich herunter, an ihrem endlich notdürftig gesäuberten, geflickten
Jeden-Tag-Kleid, dessen Farben so gedeckt, so gedämpft
waren, wie sie sich fühlte.
«Sie haben mich angesehen, als wollten Sie mich etwas
fragen.» Etwas Unbekanntes schwang in Stimme und Sprache
des Mannes mit, etwas Unbekanntes, das Mathilde dennoch
vertraut war. Vertraut wie Musik.
«Ich suche die Kinder.» Mathilde hatte sich wieder einigermaßen
gefangen. «Zwei Jungen, zehn und vierzehn, der Jüngere
geht barfuß. Und ein Mädchen. Dreizehn, mit braunen Locken.
Meine Tochter. Haben Sie die drei vielleicht gesehen?»
Der Mann nickte. «Sie sind hier vorbeigekommen. Der
Kleine steht da vorn, beim Bäcker.»
«Danke.» Mathilde schaute in die Richtung, in die der
Mann wies, und war mehr als erleichtert, als sie Horst plötzlich
sah – vor einer anderen Bäckerei als der, wo sie normalerweise
anstanden. Darum hatte sie ihn nicht gefunden.
«Vielen Dank.» Sie ging. Sie wusste, dass er ihr nachschaute,
als sie auf Horst zulief. Sie fühlte seine Gegenwart an ihrem
Rücken und sah unvermittelt Schmidtke vor sich, wie er ihr
zugezwinkert hatte, als er Trompete für sie spielte, für sie allein.
Mathilde schüttelte sich, ein Hund, dem das Wasser zu kalt war.
Der Mann kehrte zu der Laterne zurück, lehnte sich wieder
an und sah voller Genugtuung dabei zu, wie ein Passant die Kippe
aufsammelte, die er weggeworfen hatte, und hastig daran sog.
Mathilde erreichte ihren Neffen. «Was machst du hier?
Warum bist du nicht da, wo wir immer sind? Weißt du eigentlich,
welche Angst ich deinetwegen ausgestanden habe? Wie soll
ich dich denn hier finden?»
«Das hat Karla auch gesagt», stotterte Horst.
«Ja und? Warum stehst du dann hier?»
«Weil Frieder meinte, hier wäre die Schlange kürzer.»
Mathilde schüttelte, immer noch aufgebracht, den Kopf.
«Wie will er das denn wissen? Er ist doch erst seit zwei Tagen
wieder zu Hause.»
«Das hat Karla ihn auch gefragt. Aber er hat gesagt, das
wüsste
er einfach und sie solle den Mund halten. Die beiden
haben gestritten.» Horst sah seine Tante bittend an. «Ich kann
nichts dafür. Und meine Füße tun mir auch weh.»
Mathilde strich ihm über den Kopf. «Ich weiß. Wo sind sie
denn jetzt hin?»
Horst deutete auf ein Trümmergrundstück, das ein paar
hundert Meter die Straße hinunter lag – die kläglichen Überreste
einer Straße. «Holz sammeln. Frieder hat gemeint, da könnte
man die Reste eines Dachstuhls holen.»
«Bleib noch einen Augenblick hier, ja? Setz dich einfach hin
und rutsch vor. Ich knöpfe mir die beiden vor.» Horst ließ sich
mit gequältem Gesicht zwischen die Beine der anderen Schlangesteher
auf den Boden sacken. Mathilde ging mit schnellen,
festen Schritten in die Richtung, in die Horst gezeigt hatte.
Schon von weitem hörte sie, dass Karla und Frieder wieder einmal
stritten – wegen eines Stückes Holz.
«Ich habe mir genau ausgerechnet, wie lang und wie dick das
Stück sein muss, damit es am besten in unserem Herd brennt»,
sagte der Junge und hielt seiner Cousine eine Säge hin. «Also
mach endlich.»
«Du spinnst doch.»
«Wenn es genau so ist», Frieder zeigte, wie, «dann brennt es
genau so lange, wie es muss. Damit Mama kochen kann, wir
aber kein Holz verschwenden.»
«Hast du das auf deiner großartigen Schule gelernt?» Der
Spott in Karlas Stimme war nicht zu überhören.
«Angewandte Physik.» Frieder ignorierte den Spott. «Wenn
das jeder Volksgenosse beherzigen würde …»
«Volksgenossen gibt’s nicht mehr», schoss Karla dazwischen.
«Die hat alle der Ami geholt. Oder der Iwan.»
«Wie kannst du so was sagen? Vaterlandsverräterin! Mach
endlich!»
«Willst du mich etwa rumkommandieren? Muttersöhnchen!»
«Was hast du gesagt?» Frieder wurde bleich.
Karla spürte, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. «Muttersöhnchen!
Hat Angst vor dem bösen Onkel. Stattdessen
schnappt er sich sein Schwesterchen und rennt heim. Mami,
Mami, der böse Onkel hat uns Bonbons geschenkt …»
«Sag das noch mal!» Frieder, hob die Fäuste.
Karla wich keinen Millimeter zurück. «Ja, Mädels prügeln,
das kannst du. Aber was Nützliches kriegst du nicht hin.» Sie
wies hoch zu einer Dachwohnung, deren Vorderseite von einer
Bombe abgerissen worden war. Jetzt schwebte ein Teil des
Küchenfußbodens in der Luft.
Die Stockwerke darunter waren eingestürzt, ebenso das
Treppenhaus; der Fußboden wurde nur noch von den Resten
zweier Außenmauern gehalten und sah so aus, als ob er jeden
Moment herabstürzen würde. Dabei machte die Küche den
Eindruck, als wäre sie erst vor fünf Minuten verlassen worden.
Der Tisch war gedeckt, das vom Feuersturm zerzauste Tischtuch
flatterte im Wind.
«Was meinst du, was man da oben alles findet! Kohlen
wahrscheinlich, vielleicht sogar Kaffee. Eingemachtes, Linsen,
Graupen, Zucker … Aber nicht für dich, Muttersöhnchen. Weil
du dich nämlich nicht hochtraust, du Memme!»
Frieder zögerte. Mathilde konnte seine Angst förmlich riechen.
Karla spottete weiter: «Zäh wie Leder, schnell wie ein
Windhund …»
Frieder drehte sich entschlossen um und stapfte auf das
Haus zu. «Frieder, nicht!» Doch die Worte blieben Mathilde im
Hals stecken, Frieder begann bereits zu klettern. Der Junge war
geschickt und stark, erklomm den ersten, den zweiten Stock,
hielt dort einen Moment inne, sah sich um und hangelte sich
dann an einem Abflussrohr, das schräg die Wand entlanglief,
hinauf zum dritten.
Hier ging es nicht mehr weiter, das Abflussrohr war abgebrochen.
Und der dritte Stock bestand nur noch aus einem
Mauervorsprung – dem Rest der alten Zimmerdecke von etwa
einem Meter Breite –, der sich an eine der beiden Seitenwände
quetschte. Davor gähnte ein Loch bis in das Erdgeschoss. An
der gegenüberliegenden Hauswand führte zwar ein weiteres
Rohr zur Dachwohnung, doch um es zu erreichen, hätte er
über den Abgrund fliegen oder ein paar Meter die nackte
Backsteinwand entlangklettern müssen. Frieder hockte auf dem
Vorsprung, sah sich die Lage an und überlegte. Bei allem Mut,
bei aller Geschicklichkeit – das war unmöglich. Mit trotziger
Miene wappnete er sich gegen den Spott, der ihn erwartete, und
trat den Rückweg an.
«Gott sei Dank», flüsterte Mathilde, froh, dass der Spuk
vorüber war. Doch Frieder war kaum auf dem Boden angelangt,
da höhnte Karla: «Siehst du, du schaffst es nicht. Hast Angst,
Muttersöhnchen?»
«Es geht nicht.» Frieder reckte herrisch das Kinn vor.
«Unmöglich. Man kommt da nicht hoch. Niemand.»
«Natürlich schafft man das. Wenn man kein Feigling ist.
War schon richtig, das mit den Herzchen, du Pimpf …» Karla
lachte Frieders geballter Faust entgegen. «… rosa passt zu Memmen.»
Frieder beschloss, dass es seiner Männlichkeit besser stand,
wenn er ruhig blieb, und ließ die Faust sinken. Außerdem schlug
man Mädchen nicht. «Zeig’s mir doch, wenn du so mutig bist.»
«Gern.» Entschlossen ging Karla los. Mathilde erstarrte.
«Karla, nicht, bist du übergeschnappt?» Doch die schien ihre
Mutter gar nicht zu hören. Mathilde rannte hinter ihr her, hielt
sie fest: «Ich verbiete es dir. Lass die Kindereien.»
Karla wand sich aus ihrem Griff. «Von dir lasse ich mir gar
nichts verbieten. Du duckst doch schon die ganze Zeit vor
denen», presste sie hervor. «Wird Zeit, dass dem mal jemand
sein Maul stopft. Und Tante Heidrun auch.»
«Bitte, Karla.» Mathildes Stimme brach. «Das ist Wahnsinn,
lebensgefährlicher Wahnsinn.»
Karla ließ sie einfach stehen. Mathilde schluckte, das Mädchen
hörte einfach nicht auf sie. Zorn stieg in ihr auf. Zorn,
gemischt mit Furcht, während sie zusah, wie Karla, nicht weniger
geschickt als zuvor Frieder, auf demselben Weg wie jener
zum dritten Stock hochkletterte. Dort griff sie ein herabhängendes
Stromkabel und prüfte dessen Halt.
Mathilde stockte der Atem. Karla würde doch nicht…
Aber genau das tat Karla. Sie hängte sich noch einmal an
das Kabel, ohne allerdings die Füße vom Mauervorsprung zu
nehmen – es riss noch immer nicht. Dann schwang sich das
Mädchen an dem Kabel über das Loch, den Abgrund hinweg,
griff auf der anderen Seite nach dem Rohr, verfehlte es. Mathilde
wurde der Mund trocken, ihr Schrei war kaum mehr als ein
Krächzen. Doch Karla schwang bereits zurück, klammerte sich
an den Mauervorsprung und schaffte es – mit Mühe zwar, aber
sie schaffte es –, wieder hinaufzuklettern.
«Karla, bitte!», schrie Mathilde. «Komm zurück. Du siehst
doch, dass es nicht geht. Du bringst dich noch um.»
Inzwischen waren einige andere Leute stehen geblieben,
starrten genau wie Frieder und Mathilde hoch zu dem Mädchen,
das mehr als zehn Meter über spitzen, scharfen, kantigen
Trümmern in der Ruine herumturnte. «Karla!» Mathildes Stimme
überschlug sich.
Doch Karla gab nicht auf. Sie griff das Kabel, nahm diesmal
aber ein paar Schritte Anlauf, soweit das auf dem Mauervorsprung
möglich war, sprang wieder. Dieses Mal schien sie das
Rohr ins Dachgeschoss tatsächlich zu erreichen. Doch als sie
das Rohr packen und sich oben auf ihm festhalten wollte, gab
es einen Ruck – das Kabel riss etwa einen halben Meter aus der
Decke. Und Karla sackte um genau den halben Meter ab. Die
Zuschauer unten stöhnten auf. Mathilde stopfte sich die Faust in
den Mund, um nicht loszuschreien.
Karla konnte das Rohr gerade eben noch greifen, klammerte
sich daran. Aber sie hing in der Luft, außer Atem, mit Fingern,
die ihr Gewicht kaum halten konnten. Pendelte leicht hin und
her wie das Kabel, das sie losgelassen hatte, um nach dem Rohr
zu greifen. Sich hochzuschwingen und dann auf dem Rohr in
die Dachwohnung zu balancieren, wie sie es ursprünglich vorgehabt
hatte, war aus dieser Position unmöglich.
Sie tastete mit den Füßen nach Halt und fand schließlich
einen hervorstehenden Stein, auf dem sie sich abstützen konnte.
Sie versuchte, sich nach oben zu drücken, doch es gelang nicht.
Aber wenigstens konnte sie die Hände ein wenig entlasten,
etwas verschnaufen. Die Gaffer atmeten auf. Die unmittelbare
Gefahr, dass die Kleine abstürzte, schien für den Moment
gebannt. Aber auch nur für den Moment.
Karla schaute nach links, schaute nach rechts, nach oben,
unten. Erst jetzt schien ihr wirklich klar zu werden, in welcher
Lage sie sich befand. Nirgendwo ein Halt. Sie rief um Hilfe.
Doch die Menschen, die unten standen, schauten nur hoch und
glotzten. Es gab keine Möglichkeit, Karla zu erreichen – außer
man wäre in der Lage gewesen, eine schiere Backsteinmauer
entlangzuklettern.
Die Zuschauer sahen sich ratlos an; einer rief, man solle die
Feuerwehr holen, mit einer Drehleiter könne man das Mädchen
vielleicht retten, ein anderer antwortete: «Die haben wirklich
Besseres zu tun.» Und ein dritter ergänzte: «Sowieso sinnlos. Bis
die da wären, hält die nie durch.»
Frieder stammelte: «Das wollte ich nicht, das habe ich wirklich
nicht gewollt.»
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge, ein Geräusch
wie ein Wunder. Ungläubig nahm Mathilde die Hände vom
Gesicht – sollte es etwa doch noch Hoffnung geben? – und
sah, wie eine Gestalt sich von dem schmalen Deckenvorsprung
des dritten Stocks aus langsam über die Wand zu dem Rohr
hin schob, an das Karla sich mit letzter Kraft klammerte. Der
Mann, nur mit einer schwarzen Hose bekleidet, schien an der
Wand zu kleben wie eine Fliege, seine Finger krallten sich in die
Fugen, seine bloßen Zehen fanden auch noch in der engsten
Ritze Halt. Zentimeter um Zentimeter kroch er näher zu Karla.
«Ich kann nicht mehr», keuchte die, in der plötzlichen,
atemlosen, gebannten Stille für die unten Stehenden deutlich
hörbar. Die Stimmung der Gaffer drehte sich nun, man rief
dem Mädchen Durchhalteparolen zu, Rettung war nah, nur ein
paar Augenblicke musste sie noch ausharren. Mathilde biss sich
die Fingerknöchel blutig, zitterte, hielt die fremde Gestalt, die
dort – hoch oben über dem steinig-spitzen Grund – vielleicht,
hoffentlich, bitte, bitte ihre Tochter retten würde, unverwandt
mit den Augen fest. Der Kletterer war nur noch ein paar Zentimeter
von Karla entfernt. Die klammerte sich verzweifelt fest,
doch ihre Hände verloren die Kraft, das Rohr entglitt ihnen,
Millimeter um Millimeter, so sehr sie sich auch zu halten versuchte.
Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie fiel.
Der Mann, das Gesicht gegen die Mauer gepresst, hatte das
Rohr erreicht, packte es, hielt sich daran fest. Karla schrie, denn
sie rutschte ein weiteres – das letzte Stückchen. Der Mann hielt
sich mit einer Hand am Rohr, packte mit der anderen Karlas
Hand. Jetzt hingen sie beide, das ganze Gewicht beider Körper
an der einen Hand, mit der der Mann das ächzende Rohr
umfasste. Doch das schien den Mann gar nicht anzustrengen.
Er zog Karla hoch, so hoch, dass sie sich mit einem Ellbogen auf
das Rohr stützen, ein Knie auf das Rohr legen, dann ganz hinaufklettern
konnte. Beifall brandete auf, und Mathilde konnte
gar nicht aufhören, «Gott sei Dank, Gott sei Dank, Gott sei
Dank» zu murmeln.
«Kann ich dich einen Moment loslassen?», fragte Karlas Retter.
Sie nickte. Er nahm seine zweite Hand zu Hilfe, schwang
sich hoch, als turnte er an einem Reck im Nirgendwo, hockte
sich neben Karla auf das Rohr, fasste sie bei der Hand, zog sie
behutsam auf die Füße. Langsam, Schritt für Schritt, balancierten
sie das Rohr hinauf in die Überreste der Dachwohnungsküche.
Mathilde liefen Tränen der Dankbarkeit über die Wangen;
Bravo-Rufe wurden laut, einige applaudierten.
Oben angekommen, setzte der Mann Karla auf einen Stuhl.
Sie stützte schwer atmend ihren Kopf in die Hände, starrte nach
vorn, ins Nichts. Schauer liefen durch ihren Körper. Der Mann
trat an die Bruchstelle der Zimmerdecke, blieb dort einen
Moment stehen, schaute hinunter. Man hätte sich nicht gewundert,
wenn er einen imaginären Hut geschwenkt, sich verbeugt
hätte. Doch das tat er nicht. Er rief der gaffenden Menge zu,
sie sollten ein Seil besorgen, es ihm hinaufwerfen. Da erkannte
Mathilde ihn; es war derselbe Mann, den sie ein paar Minuten
zuvor angestarrt, der ihr den Weg zu Horst gezeigt hatte.
Frieder murmelte: «Das ist doch der mit den Bonbons …»
Das Seil wurde gebracht. Frieder kletterte noch einmal in
den zweiten Stock hinauf, warf es hoch. Der Mann brach ein
Tischbein ab, klemmte es quer hinter eine hohle Türöffnung,
prüfte den Halt des Mauerwerks, schlang das Seil um das Stuhlbein
und nahm Karla auf den Rücken. Die klammerte sich an
ihm fest, rutschte mit ihm das Seil hinunter zu Boden.
Wo Mathilde sie in die Arme schloss: «Was tust du nur?»
Sie war viel zu erleichtert, um Karla Vorwürfe zu machen. Und
Karla lehnte sich an ihre Mutter, weinte, schluchzte und schrie
nachträglich noch ihre Angst heraus. Mathilde strich ihr sanft
übers Haar, über den Rücken.
Über Karlas Schulter hinweg fiel ihr Blick auf den Mann,
der inzwischen Hemd und Weste wieder angezogen, den Hut
aufgesetzt, sich eine Zigarette angezündet hatte und das Lob,
das Schulterklopfen der Umstehenden nachdenklich, abwesend,
fast abweisend hinnahm. Der eher aussah, als glaubte er, einen
Fehler gemacht und nicht, eine Heldentat vollbracht zu haben.
Die merkwürdigen bernsteinfarbenen Einsprengsel in seinen
braunen Augen funkelten nicht, wirkten stumpf und erloschen.
Mathilde löste sich von ihrer Tochter, trat zu ihm. «Danke»,

sagte sie. Nur ein Wort, doch dieses Wort ließ den Mann
erschauern als hätte man ihm mit einem Eiszapfen über den
Rücken gestrichen – weil Wärme darin lag, fast unwirkliche
Wärme. Wärme, wie er sie schon lange von niemandem mehr
erwartete, und schon gar nicht von einer Deutschen.
«Ich würde mich freuen, wenn Sie zum Essen kämen», fuhr
Mathilde fort, achtete nicht auf den befremdeten Blick, den
Frieder ihr zuwarf. Dass der Zigeuner Karla gerettet hatte, schön
und gut – wobei die blöde Schnepfe ja selbst an allem schuld war.
Trotzdem konnte man sich den doch nicht ins Haus holen …
Mathilde hatte ganz andere Sorgen. «Viel haben wir nicht,
ich werde versuchen, noch was aufzutreiben. Aber Sie wissen ja,
wie die Zeiten sind …», sagte sie und wunderte sich plötzlich
über ihren eigenen Mut. Wie konnte sie jemanden einladen,
wenn sie nichts anzubieten hatte? Einen Fremden dazu. Aber
der Mann sah urplötzlich nicht mehr kraftvoll aus, sondern
ausgezehrt, einsam, verloren – und damit gar nicht mehr so
fremd. Er schien dringend die Gesellschaft anderer Menschen
zu brauchen.
Doch er antwortete nicht.
«Entschuldigen Sie, ich sollte mich vielleicht erst einmal
vorstellen. Tegge, Mathilde Tegge. Und das ist meine Tochter,
Karla.»
Karla lächelte ihren Retter an. «Danke.»
«Keine Ursache.» Der Mann erwiderte Karlas Lächeln
zurückhaltend; die Augen verloren ein wenig von ihrer Mattigkeit.
«Camillo Baumgartner.» Er streckte Mathilde die Hand
hin, die Hand, die Karla das Leben gerettet hatte.
Mathilde ergriff die Hand – sehnig, stark, aber nicht so
hart, so schwielig, wie sie erwartet hätte. «Werden Sie kommen,
heute Abend?»
Camillo zögerte immer noch: «Aber nur, wenn Sie mir erlauben,
mich zu beteiligen. Nur, wenn ich etwas mitbringen darf.»
«Eigentlich ist das nicht der Sinn einer Einladung.»
«Warum denn nicht?» Camillo lächelte leise. Aber als hätte
er aus Mathildes Berührung neue Kraft gewonnen, glitzerte das
Bernstein wieder in seinen Augen.

Druckversion | Sitemap
© Günter Overmann